“Mädels, wir müssen nach Rameshwaram. Packt die Taucherbrille ein. Wir fahren schnorcheln!” sind die Worte, mit denen mich meine Mitbewohnerinnen nach einem langen Arbeitstag bei gefühlten 50 Grad im Oktober 2010 begrüßen. Zwei Monate meines elfmonatigen Einsatzes in einem sozialen Projekt in Indien sind bisher vergangen und ich bin mehr als urlaubsreif. Neugierig und freudig erwartend war ich nach dem Abschluss meines Studiums in das Land des – meiner Meinung nach – unbegrenzten Minds gereist und bekomme das, was ich ersehnte: Spiritualität, Kultur und Abenteuer satt. Mein Gehirn braucht eine Pause von all den neuen Impressionen und meine Ohren suchen die Stille im Großstadtgehupe. Von daher Urlaub?? Ja, bitte und am Besten sofort!
Rameshwaram – kein Schnorchelparadies für urlaubsreife Westler
Der Nachtzug von Chennai, der sechstgrößten Stadt Indiens (offiziell 4,7 Mio. Einwohner), führt uns in ca. 12 Stunden nach Rameshwaram. Das Highlight der Zugreise ist sicherlich die letzte Stunde, die uns über eine 2.065 Meter lange Eisenbahnbrücke vom indischen Festland auf die Insel bringt. Angekommen um 4. 30 Uhr früh, machen wir uns auf den Weg ins Herz der Stadt, um Unterkunft sowie aber auch die erhofften Traumstände bei Tageslicht zu bewundern. Das erste, was wir allerdings sehen, ist ein großer Scheinwerfer vor einem noch größerem Tempel, aus dem uns laute Mantra-Klänge und unwahrscheinlich viele Gläubige in nassen Saris, Salwar Kameez und Lungis (indische Bekleidung für Frau und Mann) entgegen kommen. Nach einem aufklärenden Gespräch mit unserem Hotel-Rezeptionisten ist schnell klar, Rameshwaram ist kein Schnorchelparadies für urlaubsreife Westler, sondern einer der bedeutendsten Pilgerorte für Hinduisten. So etwas wie Varanasi nur ohne Ganges, dafür aber mit indischem Ozean und dem Golf von Bengalen, die sich in Danushkodi kreuzen, und in denen die Gläubigen ein Bad nehmen, bevor sie sich zum Darshan (Segnung) in den Tempel begeben.
Hanuman symbolisiert den menschlichen Geist, der durch völlige Hingabe an das Göttliche Befreiung erlangt
Rameshwaram ist eine Insel, auf der sich eine Reihe von Wundern der hinduistischen Mythologie ereignet haben. Eines davon in Danushkodi, nachzulesen im indischen Epos Ramayana, handelt davon, wie Rama und Hanuman Ramas Ehefrau Sita aus den Fängen des Dämonen Ravana befreien. Dieser hatte sie zuvor entführt und in Lanka (dem heutigen Sri Lanka) gefangen gehalten. Rama gilt als die siebte Inkarnation Vishnus, der für Gerechtigkeit in der Welt und den Einsatz für das Gute steht. Er lebte als einer der wenigen hinduistischen Götter monogam und heiratete nur eine Frau – seine Geliebte Sita. Sita steht für das Sinnbild einer treuen Ehefrau, die sich ihrem Mann, den Kindern und familiären Pflichten voll hingibt. Hanuman, der Affengott, ist Ramas treuer Diener und zeichnet sich durch seine große Hingabe und seinen selbstlosen Dienst aus. Es wird ihm auch nachgesagt, dass er symbolhaft für den menschlichen Geist steht, der durch völlige Ausrichtung auf das Göttliche Befreiung erlangen kann.
Wenn Steine schwimmen lernen
Hanuman ist Rama im Konflikt mit Ravana eine große Unterstützung. So springt er mit einem Satz 50 Kilometer von Rameshwaram nach Lanka, um Sita zu suchen. Nachdem er sie gefunden hat, kehrt er zurück und berichtet Rama, dass seine geliebte Sita noch am Leben ist. Rama, der Sita so schnell wie nur möglich befreien möchte, betet zum Wassergott Varuna, er möge ihm helfen, das Wasser zu überqueren. Dieser gibt ihn seinen Segen und verspricht, dass jeder Stein, den sie ins Wasser legen, nicht untergehen wird. So entsteht eine Brücke aus schwimmenden Steinen, die es Rama und Hanuman und einer Armee von Bären und Affen ermöglicht, Lanka zu erreichen und nach langen Kämpfen letztendlich Sita zu befreien.
Indien ein Land des Zaubers und der Wunder
Die Stadt, von der aus die Brücke nach Lanka gebaut wurde, heißt Danushkodi und ist der hellste Ort der Welt! Sie wurde durch einen Zyklon im Jahre 1964 zerstört und wir erreichen sie in 40 Minuten nach einer abenteuerlichen Jeep-Fahrt. Soviel Licht an einem Ort habe ich noch nie gesehen und so wenige Kilometer war ich noch nie von Sri Lanka entfernt. Ruinen erstrecken sich in den Dünen und lassen erahnen, dass hier ein Dorfleben stattgefunden hat. Heute stehen dort Verkaufsstände, die allerlei Souvenirs anbieten, die zum größten Teil aus Muscheln bestehen. Aber noch etwas gibt es zu sehen. Wir werden in eine Hütte mit Tempelcharaker geführt. Die Wände sind behängt mit Bildern von Hanuman, Rama und Sita. Auf dem Altar stehen Murtis (Götterstatuen), die liebevoll mit rotem Kumkum gesegnet wurden. Von der Decke hängen blaue, gelbe und pinke Blumengirlanden und in der Mitte des Raumes befindet sich etwas, das auf den ersten Blick wie ein rechteckiger Brunnen mit einem hölzernen Deckel aussieht. Der Deckel wird weggezogen und da sehen wir ihn: einen der “floating stones”. Einer der Steine, die es Rama und Hanuman ermöglicht haben, nach Lanka zu laufen, um Sita zu retten. Ich sehe ihn, es ist ein Stein und er schwimmt. Mein Kopf sagt nein, aber mein Herz sagt ja. Seitdem ich mit eigenen Augen gesehen habe, wie ein Mann versucht hat, sich einen Kühlschrank auf den Rücken zu schnallen, um ihn nach Hause zu befördern, weiß ich, in Indien ist so gut wie alles möglich.
Ich gehe aus der Hütte, um mich herum Sonnenstrahlen, die alles in goldenes Licht hüllen. Der Jeep ,der uns zurück zum Hotel bringen soll, steht schon bereit. Ich steige ein mit einem Herzen voller Zauber und der gespannten Erwartung, was mich in Indien noch alles zum Staunen und Wundern bringen wird.