Neulich war es einmal wieder soweit: Eine Mutter kontaktierte mich, um ihren Sohn für einen meiner Kinderyoga-Kurse anzumelden. Sie tat dies mit der Ergänzung: „Er ist übrigens sehr zappelig und aktiv.“ Am Tag der Probestunde für’s Kinderyoga kam die sehr sympathische Mutter mit dem Jungen vorbei, im Gepäck auch ein Baby im Kinderwagen. Schon beim Aufwärmspiel, welches wir zu Beginn der Stunde spielten, drehte der Junge – nennen wir ihn doch Ben – sehr auf. Das blieb auch während der gesamten Stunde so: Ben war lauter als die anderen, fiel mit wildem Getöse aus Yoga-Übungen wie dem „Baum“ heraus und schien insgesamt sehr unter Spannung zu stehen. Ich schritt nicht ein, sondern schaute mir stattdessen erst einmal Bens Verhalten an. Die restlichen Kinder fühlten sich jedoch gestört von Bens Herumgewusel.
Offenbar hatte es Ben so gut im „wilden Kinderyoga“ gefallen, dass er zum nächsten Termin erneut erschien. Die übrigen Kinder rollten unmerklich die Augen. Nach unserem Anfangsritual fragte ich die Kinder, ob sie Lust auf eine kleine Partnermassage zum „Herunterkommen“ nach dem langen Schultag hätten. Sie hatten Lust und fanden sich zu Paaren zusammen. Ben blieb übrig – er war während der Paar-Bildung damit beschäftigt gewesen, im Dauerlauf unseren Mattenkreis zu umrunden. Ich fragte Ben, ob er mein Assistent sein wolle und ich anhand seines Rückens den übrigen Kindern die Griffe zeigen dürfe.
Einige sanfte Berührungen sorgten für eine große Verwandlung!
Zögerlich kam er heran und setzte sich vor mich. Sobald ich Ben zu berühren begann, schien sich eine Wandlung in ihm zu vollziehen. Die Anspannung, unter der er gestanden hatte, floss förmlich aus ihm heraus. Er schien die Massage sichtlich zu genießen – und dabei war ich doch eine fremde Person für ihn! Sein Körper entspannte sich. Und als die Kinder nach der Partnermassage wieder auf ihren Matten zum Sitzen kamen, saß Ben immer noch vor mir… Manchmal braucht es also nur eine warme Hand! Nach der Stunde erwähnte ich gegenüber Bens Mutter meine Beobachtungen. Ihre Antwort kam ein wenig zerknirscht: „Ja, seitdem das Baby da ist, hat Ben eine harte Zeit. Er spielt auch gerade extrem viel Gameboy.“
Ein Beispiel nur, das mit Sicherheit nicht auf alle Kinder übertragbar ist. Aber leider kein Einzelfall. Macht es nicht ein wenig traurig, dass Ben scheinbar mit so einfachen Mitteln zu „erden“ war? Schließlich wissen wir, wie wichtig der Körperkontakt für unser Wohlbefinden ist. Berührungen haben einen positiven Einfluss auf unser Immunsystem, sorgen für die Ausschüttung von stressminderndem Oxytocin und können sogar die Hirnentwicklung von Babies günstig beeinflussen. Die günstigen Eigenschaften von Berührungen sind messbar und wissenschaftlich belegt – nicht zuletzt von dem deutschen Haptikforscher Martin Grunwald von der Universität Leipzig. Und dennoch dosieren wir Berührung äußerst sparsam.
Oft verlieren Kinder den Bezug zu ihrer eigenen Innenwelt
Schauen wir uns eine frischgebackene Mutter an – oder auch ein knallverliebtes Paar: Fummeln, Küssen, Berühren, Tätscheln, Anfassen – hier werden ständig unzählige Berührungen ausgetauscht. Doch sobald das Kind größer wird, ein zweites (oder drittes) die Familie vergrößert, oder aber die erste Welle der Verliebtheit schwindet und an ihre Stelle eine Partnerschaft mit Alltagsstress und Überstunden tritt, werden die Berührungen weniger. Mit zunehmendem Alter spielen Berührung und Körperkontakt eine immer kleinere Rolle. Möglicherweise lassen wir auch einfach weniger Berührung zu und verschanzen uns eher hinter digitalen Geräten. Der Kontakt über die Haut, unser größtes Sinnesorgan, reduziert sich drastisch.
Bei Jungs ist das sogar noch stärker zu beobachten als bei Mädchen. Und wenn dann das neue Geschwisterkind die Hauptaufmerksamkeit der Mutter einfordert, muss der Junge plötzlich noch mehr den „vernünftigen Großen“ spielen. Der Schritt zu Handy & Co. ist dann minimal. Für die niederländische Kinderyogalehrerin Helen Purperhart ist klar: Kinder verlieren durch die verstärkte Nutzung von Smartphones und Computerspielen den Bezug zur Außenwelt – und nicht selten auch zur eigenen Innenwelt. Spannungszustände sind da vorprogrammiert. Und ganz ehrlich: Wer würde nach Endlos-Zocken und minimalem Körperkontakt nicht wild im Kreis umherrennen?
Was also kann helfen? Das Handy oder den Gameboy verbieten?
Ach nö! Besser wäre es, wieder mehr in die Berührung zu kommen. Sich gemeinsam zu verbinden. Zum Beispiel über Yoga. Eltern-Kind-Yoga ist ein wunderbares Tool, um sich einmal aus dem Alltag herauszukatapultieren und sich wertschätzend zu begegnen. In meinem Buch „Yoga für dich und dein Kind“ zeige ich, dass Yoga ein wunderbares Gefährt ist, um sich mit Kindern achtsam zu verbinden. Dabei passiert auf der Matte viel mehr, als nur gemeinsame Partner-Asanas. Wir schauen uns in die Augen, lächeln uns zu, fassen uns an. Wir halten und werden vom anderen gehalten. Wir spüren unsere eigene Kraft und die des kleinen Gegenübers. Wir massieren unser Kind und werden berührt (letzteres ist für nahezu alle Eltern das unbestrittene Highlight einer Eltern-Kind-Yoga-Stunde).
Dabei sollte jeder individuelle Raum des Einzelnen beachtet werden. Denn es gibt sie, die Jungs und Mädels, die Umarmungen und Körperkontakt nicht mögen. Oder sie gerade in der Öffentlichkeit als „uncool“ empfinden. Vielleicht kann hier einmal eine abendliche Rückenmassage mit Schminkpinsel, Federn oder anderen Gegenständen wie Tüchern für langsame Annäherung sorgen. Oft löst sich bereits schon durch den Kontakt mit solchen Materialien die Anspannung des jungen Menschen – und die Berührung bleibt erst einmal indirekt. Ich bin jedenfalls davon überzeugt: Durch mehr Berührung könnte die Welt ein besserer, ein friedlicherer Ort sein!
Im Grunde geht es um Liebe. Nur, wenn wir Kindern Liebe schenken, werden sie auch Erwachsene, die Nähe und Zuneigung suchen. Kinder, die geliebt werden, haben es einfacher, eine Beziehung zu führen. Sie haben weniger Angst, nicht geliebt oder verlassen zu werden.
Mit sonnigen Grüßen
Sarah von https://www.achtsam.blog